Die Berücksichtigung der kulturellen Dimension. Zur Bedeutung von impliziten und intuitiven Welt- und Menschenbildern für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung
Donnerstag, 02.06.2016, 10 Uhr c.t. - 12 Uhr
Gästehaus, Rothenbaumchaussee 34
Natur und Nachhaltigkeit aktivieren und formen ein reichhaltiges Spektrum an Vorstellungen, Bildern, Phantasien, Hoffnungen und Ängsten. Diese Konstruktionen sind in der Regel nicht manifest, sondern treten bei den verschiedensten für die Subjekte bedeutsamen Anlässen aus ihrer Latenz heraus oder offenbaren sich im Handeln. Sie sind jedoch wirksam und bedeutsam, auch und gerade, wenn sie nicht bewusst sind. Latente, intuitive, unbewusste Sinnstrukturen – diese Vorstellungswelten nennen wir Alltagsphantasien (vgl. Gebhard 2007; 2015) – beeinflussen unsere Naturbeziehungen und auch den Natur- und Nachhaltigkeitsdiskurs.
Die zentrale Annahme des Konzepts der Alltagsphantasien ist, dass die explizite Reflexion assoziativer und intuitiver Vorstellungen die Beschäftigung mit (Lern-) Gegenständen vertieft und damit subjektiv bedeutsames, persönlichkeitswirksames Lernen ermöglicht. Im Falle der Natur- und Nachhaltigkeitsdebatte geht es beim Ansatz der Alltagsphantasien um das Verhältnis von rationalen Argumenten innerhalb der Natur- und Nachhaltigkeitsdebatte einerseits und irrationalen, intuitiven, erlebnisbezogenen Elementen andererseits.
Ein zentraler Gedanke dabei ist, dass sich die „Rationalität des Alltags“ zumindest nur teilweise mit aufgeklärter, wissenschaftlicher Rationalität deckt, ja geradezu als eine komplementäre Rationalität gedacht werden muss. Der Geist, der sich in Alltagsphantasien verdichtet, ist routiniert, automatisch (Moscovici 1982), speist sich aus latenten und vorrationalen Quellen und basiert auf individuellen Erfahrungen. Die impliziten Vorstellungen sind deshalb besonders wichtig, weil sie die kulturellen und sozialen Konzepte, unsere impliziten Welt- und Menschenbilder transportieren und handlungsrelevant sind. Implizit wirksamen Vorstellungen kommt für das alltägliche Denken und Handeln demnach eine wichtige Funktion zu, die auch im Nachhaltigkeitskontext und damit für Bildungsanliegen im Bereich einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zentral sind.
BNE soll Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, Probleme einer nachhaltigen Entwicklung erkennen und eine nachhaltige Zukunft mitgestalten zu können. Davon ausgehend, dass Denken und Handeln überwiegend von implizit wirkenden Aspekten bestimmt wird, ist es notwendig diese Aspekte in didaktische und konzeptionelle Überlegungen mit einzubeziehen. Durch die Integration dieser, wird das Individuum in seiner Komplexität erfasst und somit auch das Anliegen der Integration der „kulturellen Dimension“ (vgl. Sorgo, 2011; Holz & Stoltenberg, 2011) einer BNE berücksichtigt.
In der im Vortrag vorgestellten qualitativ-rekonstruktiven Studie wurde der Frage nachgegangen, welche implizit wirkenden Aspekte bei der Beschäftigung mit Themen einer nachhaltigen Entwicklung für Jugendliche handlungsleitend sind. Im Allgemeinen ist anzumerken, dass das Leitbild nachhaltige Entwicklung nur bedingt anschlussfähig an die Lebenswelt der Jugendlichen ist. Bezüglich Themen einer Nord-Süd-Gerechtigkeit wird deutlich, dass die Lage des Globalen Südens entweder als vorherbestimmt fatalistisch oder als selbstverschuldet betrachtet wird. Hinsichtlich der Zukunft der Welt wird das eigene Handeln als nicht einflussreich und damit die derzeitige nicht-nachhaltige Situation als alternativlos dargestellt. Die Jugendlichen orientieren sich am Hier und Jetzt, zukünftige Ereignisse werden kaum antizipiert. Die in dieser Studie rekonstruierte Orientierung in Bezug auf den Konsum von eigenen Textilien verdeutlicht zudem, dass das Leitbild nachhaltige Entwicklung nicht anschlussfähig an den von den Jugendlichen praktizierten Kauf von viel und modischer Kleidung ist.
Die Ergebnisse der Studie leisten einen ersten Beitrag zu einem besseren Verständnis der Schülerperspektiven im Kontext BNE. Soll das Leitbild nachhaltige Entwicklung anschlussfähig sein, könnte ein erster Schritt der Einbezug dieser handlungsleitenden Aspekte in didaktische und konzeptionelle Überlegungen sein. Die Ergebnisse stellen ebenfalls einen Anlass dar, um mögliche Vorannahmen über die Schülerinnen und Schüler in den normativen Konzeptionen einer BNE zu überdenken.
Vortrag und Diskussion mit Prof. Ulrich Gebhard und Anne-Katrin Holfelder, UHH Fakultät für Erziehungswissenschaft.