Im Interview: Prof. Dr. Hermann HeldProfessor für „Nachhaltige Umweltentwicklung“ an der Universität Hamburg
27. März 2019, von Stefanie Reiter

Foto: privat
Sehr geehrter Herr Professor Held, wie ist Ihre Tätigkeit an der Universität Hamburg mit dem Thema nachhaltige Entwicklung verknüpft?
Held: Am Beispiel des Klimaproblems befasse ich mich in Forschung, Lehre und Bildung mit nachhaltiger Entwicklung. „Welche Zukünfte in Bezug auf Klima-Lösungen sind möglich und bis zu welchem Grade können sie den oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Wunschvorstellungen entsprechen?“ ist die Kernfrage, die meine Mitarbeiter*innen und mich umtreibt. Dies wirft spannende fachliche Teilprobleme auf und kann zugleich den gesellschaftlichen Diskurs unterstützen – Vertrauensbildung durch Versachlichung. Ein recht abstraktes Spezialthema ist in diesem Kontext, wie mathematische Modelle für Starke Nachhaltigkeit aussehen können, so dass Entscheiden widerspruchsfrei unter Unsicherheit möglich ist, zugeschnitten auf das Klimaproblem. Unsere Einsichten fließen dann direkt in die Lehre an der UHH ein.
Warum engagieren Sie sich für das Thema nachhaltige Entwicklung?
Held: Als Mitglied der „Generation Tschernobyl“ gewann ich zunehmend den Eindruck, dass hochindustrialisierte Nationen einen Systemdefekt in Sachen nachhaltiger Entwicklung aufweisen. Dies zog mich dann auch fachlich in seinen Bann, denn Fragen, das Grundsätzliche betreffend, ziehen mich als Physiker nun einmal magisch an. Grundsätzlichem in ästhetisch anziehender Gestalt der Angewandten Mathematik bei gleichzeitiger Sinndimension durch Gesellschaftsbezug nachgehen zu können, erfahre ich seitdem als unglaubliches Privileg.
Was sind aus Ihrer persönlichen Sicht die größten Erfolge bezüglich nachhaltiger Entwicklung an der Universität Hamburg/in Deutschland/weltweit?
Held: Weltweit: die eingeleitete Schließung der Ozonlöcher und das Pariser Klimaabkommen, national und europäisch: die Lösung des Schwefelproblems und wiederhergestellte Minimalstandards an Gewässerqualität, an der UHH: eine zunehmende Zahl von Professuren mit Nachhaltigkeits-Denomination sowie, dass wir einen mutigen Diskurs begonnen haben, auf welche Weise Nachhaltigkeit ein Leitmotiv für die UHH als Volluniversität sein kann – und natürlich das drittmalige Einwerben eines Exzellenzclusters, der sich fächerübergreifend ganz dem Klimaproblem widmet.
Was sind in Ihren Augen Herausforderungen an der Universität Hamburg/in Deutschland/weltweit im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung?
Held: Wir alle bewegen uns in einem System, das sich spätestens seit Beginn der Industriellen Revolution daran gewöhnt hat, ökonomisches Wachstum auf Kosten natürlichen und sozialen Kapitals zu generieren. Dieser Mechanismus war und ist der bislang global erfolgreichste, immer mehr Menschen aus Armut in eine Mittelstands-Existenz zu befördern. Unter den Bedingungen eines globalisierten Marktes die global-kulturelle Kraft aufzubringen, einen in dieser Weise scheinbar alternativlosen Kapitalismus jedoch auf eine nachhaltige Entwicklung hin zu gestalten, stellt eine globale Herausforderung ersten Ranges dar – nicht zuletzt auch an die Wissenschaft, ohne deren Faktenbasis es nicht gelingen kann. Dieses globale Spannungsverhältnis spiegelt sich auch in unserer UHH wider. Die fortschreitende Ökonomisierung unserer Gesellschaft, die in der Logik möglichst ungebremsten Wachstums begründet ist und die seit einigen Jahrzehnten auch unser Universitätswesen erfasst hat, schuf ein Anreizsystem, das aus meiner Sicht die Kluft zwischen absolut notwendiger disziplinärer Forschung und einer Forschung noch vertieft hat, die als erstes fragt: „Was muss ich mit welchen Methoden und welchem Fächermix untersuchen, damit das gesellschaftliche Grundsatzproblem XY gelöst werden kann?“ In praxi müssen Sie, wenn Sie eine solche Frage ernst nehmen, interdisziplinär auf gemeinsame Veröffentlichungen hinarbeiten. Nachwuchsforscher*innen gehen ein hohes Karriererisiko ein, wenn sie einen zu großen Anteil ihrer Energie auf Kompetenzen außerhalb ihres Stamm-Faches verwenden. Die wissenschaftlichen Institutionen ringen mehr oder weniger um Förder-Formate, ob und wie hier Chancengleichheit mit disziplinären Karrieren geschaffen werden kann. Die Exzellenzinitiative hat hier einen Fortschritt erzielt, indem immerhin interdisziplinäre Zusammenarbeit explizit gewürdigt wird.
Ihr Rat an die Universität Hamburg?
Held: Jede Forscherin und jeder Forscher, aber auch die UHH als Institution könnte sich, vielleicht sogar ritualisiert, fragen: „Welche Nachhaltigkeits-Probleme überfordern die Gesellschaft derzeit und wie könnte meine Forschung dazu beitragen, dass die Gesellschaft schneller – vielleicht sogar noch rechtzeitig – einen Lösungspfad findet?“ Aus meiner Sicht benötigen wir eine Umgangs- und Bildungskultur, die Forscherinnen und Forscher, aber auch alle Studierenden in der Orientierungsphase ihres Bachelorstudiums, ermutigt und in die Lage versetzt, diese Frage zu stellen. Gleichzeitig muss es völlig in Ordnung bleiben, darauf zu antworten: „Sorry, ich interessiere mich nun einmal eher für meine Arbeit am Beschleuniger im Kontext einer vereinheitlichten Feldtheorie!“ Ein Kontinuum von Forschung zwischen Zugewandtheit (der Gesellschaft gegenüber) und Verinnerlichung („Feldtheorie“) sollte als gewollte Dimension von Diversität stärker kommuniziert werden.
Wer sind für Sie die inspirierenden Treiber für nachhaltige Entwicklung? Wen sollte man lesen/wem zuhören?
Held: Nachhaltige Entwicklung wird meist durch die Zivilgesellschaft getrieben, weil Teile ihrer die stärkste emotionale Bindung an die Kinder- und Enkelgeneration aufweist. Allerdings stößt sie, auf sich selbst gestellt, wegen der fachlichen Komplexität vieler Themen oft schnell an ihre Grenzen. Eine Minderheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bemüht sich, hier Lücken zu füllen. Seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren bin ich Abonnent des transdisziplinären Journals GAIA. Hier wurden und werden viele der konzeptionellen Schlachten um das Spannungsfeld „Nachvollziehbar disziplinär organisierter Forschungsbetrieb – gesellschaftliche Nachhaltigkeits-Bedürfnisse“ geschlagen. Zugleich wurden sie geerdet an konkreten, allerdings oft auch kleinteiligen Beispielen aus der transdisziplinären Praxis. Mittlerweile entwickelt sich nun auch der Klima-Diskurs in den unzähligen Fachjournalen zum Klimawandel in Richtung auf Gestaltungsfragen. Climatic Change hat hier als erstes Journal vorbildlich ein interdisziplinäres Forum geschaffen, an dem sich mittlerweile weitere Journale orientieren. Die klimaökonomische Forschung von Ottmar Edenhofer ist in besonderer Weise durch die Frage inspiriert, welche neuen Erkenntnisse der Gesellschaft dienlich sein können, das Klimaproblem zu lösen. In verteilter Form spiegelt sich dies für Großbritannien an der London School of Economics and Political Science. Und ich erlaube mir zu erwähnen, dass im Zuge der Aufstockung des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereichs in unserem Cluster vieles Wegweisendes hinzugekommen ist, dass ich dringend verstehen möchte. Zur Universitätsreform empfinde ich Uwe Schneidewinds Schriften als inspirierend, insbesondere seine Vision, die Universität könne Chancengleichheit für Transformationsforschung erreichen und die Diskurshoheit in Sachen Nachhaltigkeit und Transformation (zurück?-)erobern. Dies wäre extrem wichtig, denn es sind die Universitäten, die die kommenden Studierenden-Generationen prägen. Schließlich verfolge ich seit neuestem auch die Schülerprotestbewegung. Um diese Generation geht es und es ist im Sinne von Stakeholder-Beteiligung gut, dass sie sich endlich zu Wort meldet. Die Ernsthaftigkeit des Protestes beeindruckt mich, die sich auch in der vergleichsweise hohen Präzision der naturwissenschaftlichen und ethischen Argumente ausdrückt.
Was tun Sie persönlich, um nachhaltiger zu leben?
Held: Ich besitze kein Auto und gebe einen überdurchschnittlichen Anteil meines Soldes für nachhaltig gewonnene Lebensmittel aus.
Was sollten wir noch über Sie wissen?
Held: Das Klimaproblem halte ich für techno-ökonomisch lösbar; am Lebensstil würde sich vergleichsweise wenig ändern müssen – schade, dass der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, Weltklimarat) mit dieser Botschaft kaum durchgedrungen ist. Allerdings frage ich mich: Gibt es vielleicht noch wichtigere Nachhaltigkeits-Themen? Haben wir die nötigen Frühwarn-Instrumente installiert? Kandidaten liegen auf der Hand – und hier ist dann nicht mehr klar, ob nicht doch unsere gesamte Wirtschafts- und Lebensweise langfristig transformiert werden müsste. Studierende fragen immer öfter nach Lebensstil-Forschungsmöglichkeiten und sind enttäuscht, wenn ich nichts anbieten kann. Neben rationalen Erwägungen mag sich hier auch ein feines Gespür artikulieren, dass das herrschende gesellschaftliche Anreizsystem, in der Sprache von Erich Fromm, unser Leben immer mehr vom „Sein“ zum „Haben“ verschiebt. Meine kürzlich verstorbenen Eltern haben das Wirtschaftswachstum, von dem auch sie sehr profitierten, gerne mitgenommen, jedoch auch stets mit einer gewissen Ironie kommentiert. Es war für sie sonnenklar, dass es, jenseits der erlittenen Armutsschwelle der 1940er, auf anderes im Leben ankommt und haben es uns Kindern vorgelebt. Aus meiner Sicht müssten wir uns wieder mehr trauen, uns auch zu unseren Erfahrungen im „Sein“ zu artikulieren. Die reichen Industrienationen sind in einen zunehmend materialistischen Diskurs abgeglitten und stehen nun vor der Aufgabe, der spirituellen Dimension des Lebens, über die so wenig zu hören ist, zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen. Dies wäre entscheidend dafür, dass wir Menschen auch künftig angemessen als Menschen leben können. Es würde jedoch auch helfen, den ein oder anderen Verteilungskonflikt empathisch zu entschärfen. Ich selber habe es mir in den letzten Jahren zur Regel gemacht, bei jeder neuen Anforderung, die unser System in Richtung „Haben“ artikuliert, dem zwar, wenn möglich, zu entsprechen, mich jedoch als Gegengewicht z. B. jeweils noch vertiefter auf meine Forschungsfragen einzulassen oder intensiver Musik auszuüben. Auf beiden Zugängen eröffnet sich Ungeahntes, hochgradig Faszinierendes, Beglückendes, so dass ich mich frage: „Womit hast Du in jüngeren Jahren eigentlich Deine Zeit vertan?“
Vielen Dank!
Weiterführende Informationen: https://www.fnu.uni-hamburg.de/staff/held.html